Das Fahrrad als Werkzeug der Emanzipation: Die revolutionäre Geschichte des Frauenradfahrens

Die emanzipatorische Kraft des Fahrrades

Der wahre Durchbruch für Frauen in der Welt der Mobilität kam 1885 mit der Erfindung des „Rover Safety Bicycle“. Dieses neue Modell mit zwei gleich großen Rädern und Kettenantrieb war wesentlich sicherer als die gefährlichen Hochräder. Besonders bedeutsam war die Entwicklung von Rahmen mit tiefem Einstieg, die es Frauen trotz ihrer damaligen Kleidung ermöglichten, überhaupt Fahrrad zu fahren.

Susan B. Anthony, eine der führenden Figuren der amerikanischen Frauenrechtsbewegung, brachte es 1896 auf den Punkt: „Das Fahrrad hat für die Emanzipation von Frauen mehr getan als irgendwas sonst auf der Welt.“ Diese Aussage verdeutlicht die transformative Kraft des Radfahrens für Frauen Ende des 19. Jahrhunderts.

Das Patriarchat funktionierte (und funktioniert teilweise noch heute) durch die systematische Kontrolle von Frauenkörpern und weiblicher Mobilität. Die patriarchale Herrschaft beschränkte Frauen nicht nur auf bestimmte Räume – vornehmlich das häusliche Umfeld – sondern diktierte auch, wie sie sich zu kleiden, zu bewegen und zu verhalten hatten. Das Korsett war dabei mehr als nur ein Kleidungsstück; es war die physische Manifestation dieser Kontrolle, die Frauen buchstäblich einschnürte und ihnen die Luft zum Atmen nahm.

In diesem unterdrückerischen System wirkte das Fahrrad wie ein trojanisches Pferd der Emanzipation:

  1. Durchbrechung räumlicher Grenzen: Das Patriarchat wies Frauen spezifische, begrenzte Räume zu – meist das Heim und dessen unmittelbare Umgebung. Das Fahrrad ermöglichte es Frauen, diese räumlichen Beschränkungen zu durchbrechen und selbstbestimmt zu entscheiden, wohin sie gehen wollten. Diese neue Mobilität stellte die Kontrolle über weibliche Bewegung fundamental in Frage.
  2. Körperliche Befreiung: Die patriarchale Kontrolle über den weiblichen Körper manifestierte sich in einschränkender Kleidung wie Korsetts und langen Röcken. Das Radfahren machte diese Mode unpraktisch und erzwang Veränderungen – die „Bloomers“ erlaubten Frauen mehr Bewegungsfreiheit und stellten damit die gesellschaftlichen Normen in Frage, die den weiblichen Körper kontrollierten.
  3. Selbstbestimmte Sichtbarkeit: Das Patriarchat regulierte die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum. Frauen auf Fahrrädern besetzten diesen Raum selbstbestimmt und wurden sichtbar – nicht als dekorative Begleiterinnen von Männern, sondern als eigenständige Akteurinnen.
  4. Wissenserwerb und Horizonterweiterung: Die patriarchale Ordnung beschränkte den Zugang von Frauen zu Wissen und Erfahrungen. Mit dem Fahrrad konnten Frauen neue Orte erkunden, andere Menschen treffen und ihren Horizont erweitern, was ihre intellektuelle Autonomie förderte.
  5. Selbstwirksamkeitserfahrung: Indem Frauen lernten, Fahrrad zu fahren – eine technische Fertigkeit, die ihnen zuvor oft abgesprochen wurde – machten sie die ermächtigende Erfahrung, ihren eigenen Körper und eine Maschine zu beherrschen. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit übertrug sich auch auf andere Lebensbereiche.

Das revolutionäre Potenzial des Fahrrades erklärt den erbitterten Widerstand, auf den radfahrende Frauen stießen. Ärzte warnten vor vermeintlichen gesundheitlichen Gefahren des Radfahrens für Frauen. Sie behaupteten, die „Bewegung der Schamlippen und Oberschenkel“ würde Frauen zu „unsittlichem Verhalten“ verleiten, und die Anstrengung mache Frauen durch gerötete Gesichter „hässlich“. Diese angeblich medizinischen Warnungen waren in Wahrheit Ausdruck der Angst vor weiblicher Selbstbestimmung.

Pionierinnen auf zwei Rädern

Zahlreiche mutige Frauen trotzten den gesellschaftlichen Konventionen und wurden zu Wegbereiterinnen des Frauenradsports. Ihre Geschichten verdienen es, erzählt zu werden:

Amelie Rother

Amelie Rother Feministin auf dem Fahrrad

Amalie Rother war eine Pionierin des Damenradfahrens in Berlin und setzte sich aktiv für die Förderung des Frauenradsports ein. Gemeinsam mit ihrer Freundin Clara Beyer gehörte sie zu den ersten Frauen in Berlin, die sich öffentlich auf dem Dreirad zeigten. In ihren Schilderungen berichtete sie, dass sich sofort Hunderte von Menschen sammelten, eine Herde von Straßenjungen mitrannte und Bemerkungen in Haufen fielen, was die Fahrt zu einem regelrechten Spießrutenlauf machte.

Trotz dieser Hindernisse ließ sich Rother nicht entmutigen und setzte ihre Leidenschaft für das Radfahren fort, insbesondere außerhalb der Stadt. Sie unternahm lange Tourenfahrten nach Italien und Frankreich und sprengte damit deutlich die damaligen gesellschaftlichen Konventionen.

Neben ihrer Tätigkeit als Radfahrerin engagierte sich Rother auch organisatorisch für den Frauenradsport. Sie war Vorsitzende des Damen-Radfahr-Klubs Berlin und setzte sich für die Akzeptanz und Förderung des Radfahrens unter Frauen ein.

Amalie Rother verfasste 1897 einen Artikel über „Das Damenradfahren“, der in dem Band „Der Radfahrsport in Bild und Wort“ erschien. Darin setzte sie sich mit den Herausforderungen und Vorurteilen auseinander, denen radfahrende Frauen begegneten, und plädierte für die Anpassung der Kleidung an die Erfordernisse des Radfahrens.

Durch ihr Engagement und ihren Mut trug Amalie Rother maßgeblich dazu bei, das Radfahren für Frauen in Deutschland populär zu machen und ihnen neue Freiheiten zu eröffnen.

Annie Londonderry

Annie londonderry Feministin Radfahrerin

Annie „Londonderry“ Kopchovsky, geboren 1870 oder 1871 in Lettland, war eine jüdische Einwanderin in die USA. Sie heiratete 1888 und bekam innerhalb von vier Jahren drei Kinder. Am 27. Juni 1894 verließ sie ihre Familie vorübergehend, um mit dem Fahrrad die Welt zu umrunden.

Der angebliche Anlass für ihre Reise war eine Wette zwischen zwei Geschäftsleuten aus Boston, die behauptet haben sollen, dass keine Frau eine solche Reise bewältigen könne. Diese Wette ist jedoch nicht eindeutig belegt, ebenso wenig wie die Bedingung, ohne Geld zu starten und 5000 Dollar zu erwirtschaften. Um finanzielle Mittel zu erhalten, betrieb sie Werbung, unter anderem für ein Mineralwasser namens Londonderry, weshalb sie während der Reise den Namen Annie Londonderry annahm.

Annie startete ihre Reise in Boston und erreichte nach vier Monaten Chicago. Diese Verzögerung resultierte aus ungeeigneter Kleidung und einem zu schweren Fahrrad. Aufgrund des bevorstehenden Winters entschied sie sich, nach New York zurückzukehren, diesmal in praktischerer Kleidung und mit einem leichteren Fahrrad.

In New York bestieg sie ein Schiff nach Frankreich, radelte von Le Havre nach Marseille und setzte ihre Reise per Schiff fort. Am 23. März 1895 erreichte sie San Francisco. Obwohl nicht alle Details ihrer Route verifiziert werden können, sind Stationen wie Singapur und Saigon bekannt. Ein angeblicher Abstecher zu den Schlachtfeldern des Japanisch-Chinesischen Krieges ist jedoch zweifelhaft.

Am 24. September 1895 kehrte Annie Londonderry nach Chicago zurück, wo sie ihre Wette angeblich gewann. Anschließend verfasste sie einen Bericht in einer New Yorker Tageszeitung, geriet jedoch danach weitgehend in Vergessenheit.

Kittie Knox

Kittie Knox kämpfte gegen Rassismus und die Unterdrückung der Frau mit dem Fahrrad

Kittie Knox, geboren am 7. Oktober 1874 in Cambridge, Massachusetts, war eine afroamerikanische Radsportpionierin, die sowohl aufgrund ihres Geschlechts als auch ihrer Hautfarbe mit doppelter Diskriminierung konfrontiert war. Als Tochter einer weißen Mutter und eines afroamerikanischen Vaters wuchs sie in Bostons West End auf und arbeitete als Näherin. Ihr Interesse am Radsport führte sie 1893 zur Mitgliedschaft im Riverside Cycling Club, dem einzigen schwarzen Radsportverein in Boston, sowie in der League of American Wheelmen (LAW), einem überwiegend weißen und männlichen nationalen Radsportverband.

1894 änderte die LAW ihre Satzung, um nicht-weiße Mitglieder auszuschließen. Dennoch behielt Knox ihre Mitgliedschaft, da die neuen Regeln nicht rückwirkend galten. Bei der Jahrestagung der LAW 1895 in Asbury Park, New Jersey, wurde ihr aufgrund ihrer Hautfarbe der Zutritt verweigert. Trotz Unterstützung von einigen Mitgliedern erlebte sie weitere Diskriminierungen, wie die Ablehnung in Restaurants und Hotels. Ihr Auftreten auf dem Liga-Ball führte zu Kontroversen, wobei einige Teilnehmerinnen aus Protest den Ball verließen.

Knox war bekannt für ihre sportlichen Leistungen und ihren innovativen Kleidungsstil. Sie fuhr ein Herrenrad und trug selbst entworfene Knickerbocker oder Bloomers anstelle von Röcken, was Aufmerksamkeit erregte. 1895 gewann sie einen Preis bei einem Wettbewerb für Fahrradkleidung in Waltham, Massachusetts. Trotz der Hindernisse setzte sie ihre Leidenschaft fort und nahm an zahlreichen Rennen teil, oft gegen männliche Konkurrenten, und absolvierte Langstreckenfahrten von bis zu 100 Meilen.

Kittie Knox starb am 11. Oktober 1900 im Alter von 26 Jahren an einer Nierenerkrankung. Ihr Engagement im Radsport trotz der doppelten Diskriminierung macht sie zu einer bedeutenden Figur in der Geschichte des Sports. Erst 1999 wurde die rassistische Ausschlussklausel der LAW offiziell aufgehoben, begleitet von einer Entschuldigung an die afroamerikanische Gemeinschaft. Heute wird Knox‘ Vermächtnis geehrt, unter anderem durch die Benennung eines Radwegs in Cambridge als „Kittie Knox Bike Path“ im Jahr 2019 und die Einführung des Kittie Knox Awards durch die LAW für Engagement in Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion im Radsport.

Hélène Dutrieu

Helene Dutrieu Feministin auf dem Fahrrad und Weltklasse Radrennfahrerin

Hélène Dutrieu, geboren am 10. Juli 1877 in Tournai, Belgien, war eine bemerkenswerte Sportlerin und Pionierin in mehreren Disziplinen. Als Tochter eines belgischen Offiziers verließ sie mit 14 Jahren die Schule, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre erste Leidenschaft galt dem Radsport, inspiriert durch ihren Bruder, einen der frühen Radrennfahrer. Sie lieh sich oft sein Fahrrad aus und entwickelte schnell außergewöhnliches Talent. Obwohl der lokale Radsportverein sie nicht aufnehmen wollte, trainierte ihr Bruder sie selbst, nachdem er aus Protest aus dem Verein ausgetreten war.

Bereits mit 16 Jahren galt Dutrieu als die schnellste Frau der Welt auf dem Fahrrad. 1895 stellte sie den Weltrekord für die in einer Stunde zurückgelegte Distanz auf der Bahn auf. In den Jahren 1896 und 1897 gewann sie die Weltmeisterschaft im Sprint der Frauen in Ostende, Belgien, und erhielt den Spitznamen „La Flèche humaine“ („Der menschliche Pfeil“). Im August 1898 gewann sie den Grand Prix d’Europe, und im November desselben Jahres siegte sie bei der „Course de 12 Jours“ in London. Für ihre Erfolge wurde sie von König Leopold II. mit dem Kreuz von St. Andreas mit Diamanten ausgezeichnet.

Neben dem Radsport war Dutrieu auch für ihre waghalsigen Stunts bekannt. Sie führte Loopings auf dem Fahrrad, später auch auf dem Motorrad und im Auto durch, was ihr internationale Anerkennung einbrachte. Mit 21 Jahren wandte sie sich der Fliegerei zu und wurde eine der ersten Pilotinnen weltweit. Am 25. November 1910 erhielt sie als erste Frau in Belgien und als vierte Frau weltweit die Fluglizenz des Aéro-Club de Belgique. Sie stellte mehrere Rekorde auf, darunter den ersten Frauenrekord für einen Flug von über einer Stunde am 21. Dezember 1910. 1911 gewann sie in Florenz die „Coppa del Re“, wobei sie 13 männliche Piloten hinter sich ließ. 1913 wurde sie als erste Frau in der Luftfahrt mit der Ehrenlegion ausgezeichnet.

Während des Ersten Weltkriegs diente Dutrieu als Krankenschwester und leitete ein Militärkrankenhaus. Erst im Alter von 45 Jahren heiratete sie den französischen Journalisten und Politiker Pierre Mortier, um ihre Karriere nicht zugunsten familiärer Verpflichtungen aufzugeben – eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Entscheidung. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1946 engagierte sie sich weiterhin für die Förderung des Frauensports und stiftete 1956 den „Coupe Hélène Dutrieu-Mortier“, einen Preis für französische und belgische Pilotinnen, die Langstreckenflüge ohne Zwischenlandung absolvierten.

Hélène Dutrieu verstarb am 26. Juni 1961 in Paris im Alter von 83 Jahren. Ihr Vermächtnis als Pionierin des Sports und der Luftfahrt wird bis heute geehrt, unter anderem durch die Benennung einer Straße in Brüssel im Jahr 2024.

Alfonsina Strada

Alfonsina Strada eine frühe Radrennfahrerin

Alfonsina Strada, geboren am 16. März 1891 in Castelfranco Emilia, Italien, war eine bemerkenswerte Radrennfahrerin, die als einzige Frau offiziell an einer der großen Rundfahrten des Männer-Radsports teilgenommen hat.

Aufgewachsen in einer Bauernfamilie, entdeckte sie früh ihre Leidenschaft für das Radfahren. Mit zehn Jahren erhielt sie ihr erstes Fahrrad, das ihr Vater im Tausch gegen Hühner erworben hatte. Bereits mit 13 Jahren nahm sie an ihrem ersten Radrennen in Reggio Emilia teil und gewann als Preis ein lebendes Schwein. citeturn0search13

1907 zog sie nach Turin, ein Zentrum des italienischen Radsports, wo sie begann, an Wettkämpfen teilzunehmen. Dort wurde sie als „beste italienische Radfahrerin“ ausgezeichnet, nachdem sie die bekannte Giuseppina Carignano besiegt hatte.

1911 stellte sie einen neuen Stundenweltrekord für Frauen auf, indem sie eine Strecke von 37,192 Kilometern zurücklegte und damit den vorherigen Rekord der Französin Louise Roger übertraf.

Während des Ersten Weltkriegs, als viele männliche Fahrer an der Front waren, nahm Strada an Männerwettbewerben teil, darunter zweimal am Giro di Lombardia in den Jahren 1917 und 1918. 1917 belegte sie den 20. Platz, während 43 Teilnehmer das Rennen vorzeitig beendeten.

Ihre bedeutendste Leistung war die Teilnahme am Giro d’Italia 1924, einer der härtesten Radrennen der Welt. Obwohl sie während der achten Etappe außerhalb des Zeitlimits ankam, erlaubten ihr die Organisatoren, das Rennen fortzusetzen, auch wenn sie nicht mehr offiziell in der Wertung geführt wurde. Sie beendete das Rennen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 21 km/h und war damit die einzige Frau, die jemals offiziell eine der großen Rundfahrten der Männer absolvierte.

Nach ihrer aktiven Karriere eröffnete sie 1939 ein Fahrradgeschäft in Mailand, das zu einer Institution wurde und von namhaften Fahrern wie Fausto Coppi frequentiert wurde. Sie fuhr bis ins hohe Alter Radrennen und nahm 1956 im Alter von 65 Jahren an ihrem letzten Rennen in Mailand teil.

Alfonsina Strada starb am 13. September 1959 in Mailand im Alter von 68 Jahren an einem Herzinfarkt. Ihr Vermächtnis als Pionierin des Frauenradsports bleibt unvergessen, und ihr Fahrrad ist heute in der Sammlung der Kapelle Madonna del Ghisallo nahe dem Comer See in Italien ausgestellt.

Frauen der Résistance

Irma Caldow mit dem Fahrrad für die Résistance

Während des Zweiten Weltkriegs spielte das Fahrrad eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Frauen wie Jeanne Bohec nutzten Fahrräder für ihre gefährlichen Missionen. Bohec ging nach England und wurde Mitglied einer der ersten Fraueneinheiten der Welt. Sie lehrte den Umgang mit Sprengstoff und setzte sich hartnäckig dafür ein, als Fallschirmjägerin und Saboteurin ausgebildet zu werden. 1944 hatte sie oft mehrere Einsätze am Tag, bei denen sie alles mit dem Rad fuhr und häufig mehr als 100 Kilometer zurücklegte.

Auch Irma Caldow nutzte ihr Fahrrad für den Widerstand, indem sie Nachrichten in ihrem Haar versteckte und per Rad überbrachte. Diese mutigen Frauen zeigten, dass das Fahrrad nicht nur ein Werkzeug der persönlichen Freiheit, sondern auch des politischen Widerstands sein konnte.

Yvonne Reynders

Yvonne Reynders - eine der besten Rennfahrerinnen die es jemals gab

Yvonne Reynders, geboren am 4. August 1937 in Schaerbeek, Belgien, ist eine der erfolgreichsten Radsportlerinnen der 1960er Jahre.

Ihre Karriere begann unter ungewöhnlichen Umständen: Nach dem Schulabbruch im Alter von 16 Jahren arbeitete sie als Kohlenlieferantin in Antwerpen und nutzte dabei ein Lastendreirad. Um ihre Muskelmasse, die sie als Diskuswerferin aufgebaut hatte, zu reduzieren, legte sie täglich weite Strecken mit dem Fahrrad zurück. Diese harte körperliche Arbeit legte den Grundstein für ihre spätere Ausdauer und Stärke im Radsport.

Reynders‘ sportliche Vielseitigkeit zeigte sich bereits in ihrer Jugend: Sie war eine talentierte Schwimmerin und Leichtathletin, bevor sie sich dem Radsport zuwandte.

Ihr eiserner Wille und ihre Zähigkeit führten sie zu bemerkenswerten Erfolgen: Zwischen 1959 und 1966 wurde sie viermal Weltmeisterin im Straßenrennen und dreimal Weltmeisterin in der Bahnverfolgung. Zusätzlich errang sie mehrere Silbermedaillen bei Weltmeisterschaften und wurde zehnmal belgische Meisterin im Straßenradsport.

Reynders‘ Leistungen trugen maßgeblich dazu bei, dass Frauen im Radsport zunehmend als ernstzunehmende Athletinnen anerkannt wurden. Dennoch war der Weg zur vollständigen Gleichstellung noch weit, und Pionierinnen wie sie ebneten den Weg für zukünftige Generationen von Radsportlerinnen.

Nach ihrem Rücktritt vom aktiven Radsport engagierte sich Reynders als Trainerin der belgischen Frauen-Nationalmannschaft und später der Schweizer Fahrerinnen, wobei sie ihr umfangreiches Wissen und ihre Erfahrung an die nächste Generation weitergab.

Yvonne Reynders‘ Lebensweg vom Kohlenlieferdienst zur mehrfachen Weltmeisterin ist ein inspirierendes Beispiel für Entschlossenheit und Leidenschaft im Sport.

Der moderne Frauenradsport: Kampf um Anerkennung und neue Bewegungen

Nach den Pionierinnen des frühen 20. Jahrhunderts erlebte der Frauenradsport Höhen und Tiefen. In den 1970er und 1980er Jahren begann eine neue Welle der Emanzipation im Sport, die auch den Radsport erfasste.

1984 gab es einen ersten Anlauf für eine Frauen-Version der Tour de France. Trotz anfänglicher Begeisterung verschwand dieses Rennen jedoch wieder von der Bildfläche, was die anhaltenden Schwierigkeiten bei der Etablierung des Frauenradsports verdeutlichte. Die männlich dominierte Radsportwelt war noch nicht bereit, Frauen denselben Raum und dieselbe Anerkennung zu gewähren.

In den 1990er und 2000er Jahren wuchs der Frauenradsport kontinuierlich, blieb aber im Vergleich zum Männerradsport unterfinanziert und medial unterrepräsentiert. Trotzdem bildeten sich starke Fahrerinnen und Teams heraus, die trotz widriger Umstände beeindruckende Leistungen erbrachten.

Ein bedeutender Wendepunkt kam erst 2022 mit einem neuen Anlauf für die „Tour de France Femmes“. Dieses Rennen, nun unter professioneller Organisation und mit angemessener medialer Berichterstattung, markierte einen Meilenstein für den Frauenradsport. Es signalisierte eine wachsende Anerkennung der athletischen Leistungen von Frauen und schuf neue Vorbilder für junge Radsportlerinnen.

Gleichzeitig entstanden weltweit Graswurzelbewegungen, die das Fahrrad als Werkzeug für soziale Veränderung nutzen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist der „Fancy Women Bike Ride“, der 2013 von zwei Frauen in Izmir, Türkei, ins Leben gerufen wurde. Diese Veranstaltung, die inzwischen in über 100 Städten weltweit stattfindet, zelebriert Frauen, die frei und sicher leben können und dabei sichtbar und Teil der Gesellschaft sind. Die Teilnehmerinnen fahren in bunten, auffälligen Kleidern Fahrrad, um Aufmerksamkeit zu erregen und zu zeigen, dass der öffentliche Raum auch Frauen gehört.

Auch in vielen westlichen Städten haben sich in den letzten Jahren Fahrradinitiativen von und für Frauen gebildet. Sie bieten Fahrradkurse für Migrantinnen an, organisieren gemeinsame Ausfahrten in sicherer Umgebung oder setzen sich politisch für eine fahrradfreundliche Infrastruktur ein, die die Bedürfnisse aller Geschlechter berücksichtigt.

Fazit: Das Fahrrad als fortdauerndes Symbol der Freiheit

Mehr als 200 Jahre nach seiner Erfindung bleibt das Fahrrad ein kraftvolles Symbol für die Emanzipation der Frauen. Von den mutigen Pionierinnen des späten 19. Jahrhunderts bis zu den professionellen Radsportlerinnen und Aktivistinnen von heute hat das Zweirad Frauen buchstäblich und im übertragenen Sinne in Bewegung gesetzt.

Die Geschichte des Frauenradfahrens ist eine Geschichte des Widerstands gegen gesellschaftliche Normen, des Kampfes um Gleichberechtigung und der persönlichen Befreiung. Sie zeigt, wie ein scheinbar einfaches Transportmittel zu einem revolutionären Werkzeug werden kann, das nicht nur die individuelle Mobilität, sondern auch gesellschaftliche Strukturen verändert.

Heute, in einer Zeit zunehmender Urbanisierung und wachsender Umweltprobleme, gewinnt das Fahrrad erneut an Bedeutung – nicht nur als nachhaltiges Verkehrsmittel, sondern auch als Mittel zur Schaffung inklusiverer, gerechterer Städte. Die Forderung nach sicheren Radwegen, nach Städten, in denen Frauen ohne Angst radfahren können, verbindet sich mit der historischen Emanzipationsbewegung zu einer fortdauernden Tradition des Radfahrens als Akt der Freiheit. Dabei spielen Räder, wie unsere Libelle oder Hummel, die helfen den Alltag zu bewältigen, eine entscheidende Role

Das Erbe der Radpionierinnen lebt weiter: in jeder Frau, die heute auf ein Fahrrad steigt, um zur Arbeit zu fahren, um Sport zu treiben oder einfach, um die Freiheit zu genießen, die zwei Räder und ein Rahmen schenken können.